22. September, Bundestagswahl, steht da auf der Wahlbenachrichtigung. Und ich soll doch bitte schön nochmal zur Schule gehen, von wegen Wahllokal und so. Wie nett, da fühle ich mich gleich richtig ernst genommen.
Aber egal, endlich ist es soweit! Wer hätte dieses Datum auch nicht herbeigesehnt? Gut, die wenigsten wegen besonderer Erwartungen oder gar eigener politischer Ambitionen. Nein, es reicht schon die bloße Aussicht auf das Ende eines unendlich zähen Wahlspektakels, aus dem es kein Entrinnen gab.
Heute Punkt 18 Uhr schließen also die Wahllokale und für einen ganz kurzen Augenblick schweigen selbst die allgegenwärtigen Politdarsteller, um der Stimme des Wählers zu lauschen. Könnte man zumindest meinen. Aber die Stimme des Wählers, hört man die überhaupt? Oder ist das auch nur so ein geflügeltes Wort, das heile Welt und Selbstbestimmung suggeriert, wo tatsächlich vier lange Jahre eisiges Schweigen und Grabesruhe herrscht, als oberste parteidemokratische Bürgerpflicht?
Dem Gedanken an mehr Mitsprache und direkter Demokratie werden heute abend sicher nur wenige nachhängen, denn schon einen Sekundenbruchteil nach Schließung der Wahllokale beanspruchen die Fernsehanstalten mit ihren animierten Hochrechnungen alle Aufmerksamkeit. Der kurze Moment der Besinnung in diesem Wahltheater ist damit sogleich zunichte gemacht. Schade. Wenigstens eine Art Gedenkminute würde ich mir wünschen. Vielleicht sogar fünf Minuten, für einen Gang irgendwohin. In den langen Wahlkampfmonaten wurde doch so einiges an schwer verdaulicher Politsülze und Wahlversprechen verzehrt. Irgendwann sollte man sich davon befreien dürfen.
Aber gut, lassen wir das Zeug noch eine Weile vor sich hingären und widmen uns den Hochrechnungen bei ARD und ZDF, denn die können durchaus für Unterhaltung sorgen. Etwa bei knappem Wahlausgang, wenn die errechneten Mehrheiten eine Weile hin und herschwanken, am besten von Sender zu Sender. Aus dem Wahlkampf wird unversehens der Kampf um die Einschaltquote. Wenn schon kein Moment der Besinnung, dann also wenigstens einer der Ungewissheit. Die läßt selbst die abgeklärten Parteispitzen ordentlich ins Schwitzen geraten. Wie demütigend. Ein Grund mehr, den Souverän nur mit der Häufigkeit von Schaltjahren aufzufordern, Titelnamen für neue Aufführungen auszuwählen, sich ansonsten aber nicht ins Drehbuch hineinreden lassen, denn davon versteht er eh nichts.
Der Akt "Wahlabend" bildet den Höhepunkt jedes dieser vier Jahre langen Stücke. Zu diesem Akt wird ausnahmsweise sogar der Wähler, der ja ansonsten immer nur passiv im Publikumsraum hockt, als textloser Statist auf die Bühne geladen, pro forma versteht sich. Dem regelmäßigen Urnengänger sollte die Minirolle eigentlich geläufig sein, wenn er nicht gerade als Erstwähler mitmacht. Und so schwer ist diese Rolle ja auch nicht. Dennoch bietet jede neue Aufführung des Akts "Wahlabend" seine eigenen Überraschungen. In seiner laienhaften Unbeholfenheit beliebt der Wähler nämlich immer ein wenig zu improvisieren und sorgt damit zuweilen für eine unvorhergesehene Wendung auf der Bühne. Da kommt es schon mal vor, daß der Statist plötzlich dem Nebendarsteller einen Schubs versetzt, so daß dieser als überraschender Sieger aus dem Hintergrund hervorgestolpert kommt, um den verdutzten Hauptdarsteller zur Seite zu stoßen. Hoppla, damit rechnet natürlich kein ernstzunehmender Kritiker bzw. Wahlforscher und sucht rasch nach einigermaßen plausiblen Gründen für die neue Szene.
Oder es wird eine Parteiriege hart von der eigenen Wählerschaft abgestraft. Umbesetzung der Rolle. Am Ende könnte sich eine ganze Partei auch mal gehörig verrechnen, kann vielleicht nicht mal mehr bis fünf zählen, fünf Prozent um es genau zu sagen. Dann wäre die Rolle ersatzlos gestrichen. So bitter nun der Verzicht auf die einträgliche Gage im Staatstheater bzw. Parlament, so wichtig ist in dem Fall, wenigstens nicht auch noch den einträglichen Job in der Parteizentrale an den Nagel hängen zu müssen. Selbst nach einer verheerenden Wahlpleite lautet deshalb das oberste Schauspielergebot: Bloß nicht den Text vergessen!
Folglich bekommt der Wähler in den Fragerunden der großen Sender ausnahmslos Sieger zu sehen, echte und, naja, moralische Sieger. Jede Menge mehr oder weniger strahlende Gewinner also. Selbst das Wahlvolk könnte strahlen, sogar jubeln, oder nicht? Außer in Berlin aber, bei ein paar medienwirksam Sekt schlürfenden Parteigängern, dürfte keine rechte Freude auszumachen sein. Eher Erleichterung über das Ende eines zähen Wahlkampfs oder Desinteresse am ganzen Spektakel. Vielleicht sogar Verdruß über die viel zu seltene Gelegenheit zur Mitbestimmung. Allerdings passt richtige, direkte Demokratie nunmal nicht zum Geschäftsmodell der Parteien. Das muss der eigensinnige Wähler einsehen. Es bleibt ihm bislang auch gar keine Wahl.
In diesem Sinne, bis nach 18 Uhr!
Finerus