Beitragvon CrazybutOK » 06.06.2015, 16:19
Nachdem ich diesen Fred jetzt von Anfang an bis hierher gelesen habe, kann ich einfach nicht umhin, meinen Senf dazuzugeben:
Deutschlands Wohlstand geht also dahin...
Über welchen Wohlstand wird denn hier diskutiert?
Den Wohlstand der zweifelsfrei vorhandenen Superreichen, die dann in den Statistiken dazu herhalten, dem zunehmend stärker verblödenden Volk weiszumachen, dass es "uns" so gut geht, wie noch nie zuvor?
Oder den Wohlstand des exponentiell schrumpfenden Mittelstands? Oder den Wohlstand der glücklichen Arbeitnehmer, die beispielsweise schon seit Jahrzehnten bei einem großen Automobilhersteller für immer noch sehr gute Löhne arbeiten?
Mir ist schon klar, dass in einem Forum für Edelmetalle die meisten registrierten Benutzer mit einer nicht unerheblichen Wahrscheinlichkeit einer der oben genannten Schichten angehören. Und diesen Schichten geht es in der Tat hervorragend, vor allen Dingen verglichen mit anderen Regionen in dieser Welt. Mir ist ebenfalls klar, dass sehr viele der User hier über einen entsprechenden Bekanntenkreis verfügen, dem es ebenfalls gut geht.
Was also mehr oder weniger naturgemäß untergeht, ist die Tatsache, dass eben dieser Wohlstand mittlerweile am größten Teil der Bevölkerung in Deutschland vorbei geht. Mehr als das, in Deutschland gibt es zur Zeit wesentlich mehr Menschen, die an oder unterhalb der Armutsgrenze leben, als Menschen, denen es tatsächlich gut geht. So lange es einem selbst gut geht, wird eben gerne darüber hinweggesehen, dass dies auf viele andere eben schon lange nicht mehr zutrifft.
Ich habe ( nachdem ich viele Jahre lang ebenfalls zur Gruppe der gut verdienenden gezählt habe ) vor ein paar Jahren aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen meine "Karriere", und damit auch die gut bezahlten Jobs, hinter mir gelassen, und ganz bewusst downgegradet. Heute arbeite ich als stinknormaler Arbeiter in der Produktion.
Wenn ich die Möglichkeiten, die ein "normaler Arbeiter" noch vor ein paar Jahrzehnten hatte, mit denen von heute vergleiche, stellen sich mir allerdings wirklich die Nackenhaare auf:
Ich wohne in einer Stadt mit gut 80.000 Einwohnern in NRW, nicht im Ruhrgebiet und die Stadt steht, was wirtschaftliche Kenndaten angeht, eigentlich recht gut da. Es gibt reichlich mittelständische Unternehmen, vielen von denen geht es sehr gut, etliche stellen auch mehr oder weniger regelmäßig Leute ein. Hier kommen wir zu einem ( meiner persönlichen Meinung nach ) Grundübel der deutschen Wirtschaftskultur:
Die Einstellungen erfolgen zu beinahe 100% über Zeitarbeitsfirmen. In meiner Stadt gibt es davon mittlerweile deutlich über 20, davon mehrere mit vierstelligen Mitarbeiterzahlen. Manche arbeiten überregional, andere nur lokal. Eines haben allerdings alle gemeinsam: Es sind moderne Menschenhändler.
Die "Mitarbeiter", welche über Zeitarbeitsfirmen eingestellt werden, machen die gleichen Arbeiten, wie die fest angestellten Arbeiten des Ausleihers, erhalten dafür aber nur einen Bruchteil des Arbeitslohnes. In der Regel sprechen wir hier von 8,50 Euro Stundenlohn. Wie hat doch Frau Nahles, unsere Arbeitsministerin, die selber noch nie in ihrem Leben gearbeitet hat, so schön formuliert:
"Die Einführung von Mindestlohn ist eine der größten sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte."
Na dann schauen wir uns die Sache doch mal genauer an:
In Zeitarbeitsunternehmen herrscht in der Regel eine 35-Stunden-Woche. ( Tarifvertrag IGZ, Interessengemeinschaft Zeitarbeit )
Beim "Kunden" wird aber meistens deutlich länger gearbeitet. Der Leiharbeiter leistet also im Vergleich zu seinem Tarifvertrag Mehrarbeit. Diese wird natürlich nicht ausbezahlt, sondern seinem Zeitkonto gutgeschrieben. So lange, bis sich dort 150 Überstunden angesammelt haben, also ein voller Arbeitsmonat bei Tarif IGZ. Erst wenn dort mehr Stunden sind, werden diese ausbezahlt. Sozusagen gewährt der Leiharbeiter seinem Menschenhändler einen selbstredend zinslosen Kredit über einen vollen Monat Arbeit.
Während die Leiharbeiter in Ländern aus der Nachbarschaft, wie Frankreich oder die Niederlande, immer mindestens den gleichen Lohn verdienen müssen, wie die festangestellten Mitarbeiter des Betriebes, in dem sie arbeiten, gilt dies in DE nicht. Dort arbeiten sie meistens für den gesetzlichen Mindestlohn. Allerdings gibt es Branchen, in denen sogenannte Branchenzuschläge bezahlt werden, wie zum Beispiel die Metallindustrie. Dort beginnt ein Leiharbeiter mit dem Mindestlohn, und wenn er länger in dem Betrieb gearbeitet hat, greifen sukzessive die Branchenzuschläge. ( Das ist dann ein Leiharbeiter erster Klasse, fast schon ein normaler Mensch! )
In vielen Branchen arbeiten die Leiharbeiter allerdings dauerhaft zum Mindestlohn. Erst wenn sie 2 Jahre dauerhaft bei einem Kunden im Einsatz sind, erhalten sie einen unglaublichen Zuschlag von 53 Cent die Stunde. Selbstredend gibt es viele Entleihfirmen, die sich diese unnötigen Zuschläge ganz einfach dadurch sparen, dass die Leiharbeiter kurz vor Erreichen der entsprechenden Zeiträume gegen andere ausgetauscht werden. Das spart Geld und hält die Eigner bei Laune. Leiharbeiter, die das "Glück" haben, bei einem solchen Entleiher zu arbeiten, sind die ganz armen Schweine. Aber das sind nur etwa 75-80%, vorsichtig geschätzt.
Ich spreche hier übrigens nicht über Lulli-Jobs, bei denen man sich nicht die Finger schmutzig macht und seine Kohle für wenig und leichte Arbeit bekommt. Aber was bleibt denn für einen solchen Leiharbeiter am Ende eines Monats übrig?
Nehmen wir mal einen Leiharbeiter, der zum Mindestlohn arbeiten darf, das sind ja eh die meisten, daher passt das schon ganz gut so:
40-Stunden-Woche beim Kunden, Monatsarbeitszeit ca. 170 Stunden. Bezahlt davon werden erst mal 150 Stunden a 8,50 Euro, macht dann stolze 1275,- Euro brutto. Nehmen wir mal an, dass der Leiharbeiter ledig ist, eine Familie kann er sich ja ohnehin nicht leisten, dann bleiben netto unter 1000,- Euro. Für die ersten siebeneinhalb Monate jedenfalls, dann ist das Stundenkonto voll und der Bruttolohn steigt danach auf stolze 1445,- Euro an, damit knackt er dann aber locker die 1000,- Euro netto! Vorausgesetzt, der Menschenhändler kann ihn dauerhaft beim Kunden einsetzen. Tritt zwischendurch ein Leerlauf ein, sprich der Menschenhändler hat gerade keinen Entleiher zur Hand, werden natürlich die angesparten Stunden wieder aufgebraucht. Also nix mit über 1000,- Euro netto.
Die eingezahlten Beiträge zur Sozialversicherung, wie Rente und Arbeitslosengeld, sind naturgemäß entsprechend üppig. Wenn ein Zeitarbeiter arbeitslos wird, der zum Mindestlohn gearbeitet hat, ist er also DIREKT ein Sozialfall, da sein Arbeitslosengeld unter Hartz4-Niveau inkl. Mietzuschuss liegt. Heißa! Da heißt es also spuren, damit dieser Fall erst gar nicht eintritt.
Wenn sich jetzt von euch noch ernsthaft jemand fragt, warum es so viele Hartzler in DE gibt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Es muss einfach mehr Indianer als Häuplinge geben, das liegt in der Natur der Sache. Wenn allerdings die Aussichten der Indianer sind, wie von mir hier beschrieben, kann ich verstehen, dass viele keine Lust mehr haben, Indianer zu sein.
Natürlich gibt es auch bei Zeitarbeit Win-Win-Situationen, allerdings leider nicht für die Zeitarbeiter. Der Menschenhändler erhält ja von seinem Kunden, dem Entleiher, nicht den an den Leiharbeiter gezahlten Mindestlohn, sondern etwa 24,- Euro pro Stunde, schließlich müssen Menschenhändler auch leben. Und sie leben gar nicht mal so schlecht, sonst würde es ja nicht so viele davon geben. Also sind findige Unternehmer dazu übergegangen, eigene Menschenhandelsfirmen zu gründen, die dann anschließend den eigentlichen Unternehmen die Sklaven verleihen. So kassiert der Menschenhändlerunternehmer, der vorher nur normaler Unternehmer war, den Sklaven gleich doppelt ab.
Da hier, und das wird anderswo in DE kaum anders sein, beinahe ausschließlich über Zeitarbeitsfirmen eingestellt wird, könnt ihr euch leicht ausrechnen, wie viele Menschen bereits in Zeitarbeit arbeiten. Es sind Millionen in Deutschland und es werden immer mehr.
Falls einer von euch der Meinung ist, dass ich als völlig frustierter Mensch hier die Dinge überziehe und die Zustände übertreibe, dem ist nicht so. Ich gehe mit Branchenzuschlag arbeiten, werde in meinem Unternehmen mehr als anständig behandelt und gehe dort sehr sehr gerne arbeiten. Ich habe diesen Weg selbst gewählt und es geht mir gut dabei, besser jedenfalls als vorher. Allerdings habe ich auch die ABSOLUTEN Ausbeuter kennengelernt auf dem Weg hierher, ich weiß also, wovon ich spreche.
Ich habe jetzt mal exemplarisch das Thema Zeitarbeit bemüht, um für jeden klar erkennbar aufzuzeigen, wohin der Hase läuft. Natürlich gäbe es dutzende weitere Themen, die ich hätte bemühen können. Es ging mir schicht darum, mal einen Kontrapunkt zur hier deutlich überproportional vorhandenen "Den Hartzern geht es immer noch viel zu gut!"-Fraktion zu setzen, bzw. diese zum Nachdenken anzuregen. Ich persönlich kann jeden verstehen, der nicht arbeiten geht, weil das Verhältnis der Bezahlung zur geleisteten Arbeit in vielen Fällen einfach nicht mehr passt. Ich selber kann und möchte das nicht, weil ich einfach zu gerne arbeiten gehe.
Natürlich gibt es in Deutschland noch Wohlstand. Er konzentriert sich allerdings auf immer weniger Menschen, dafür in immer unglaublicherem Umfang. Für die große Masse ist Wohlstand schon lange Geschichte, der Titel dieses Freds müsste also eigentlich lauten:
Deutschlands Wohlstand ist gegangen. Zu einigen wenigen.
denkt
Crazy
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